Oft beschäftigt mensch sich mit den negativen Aspekten eines Themas. Der Fokus liegt meist darauf, was noch zu tun ist, was es nicht gibt oder welche Ungerechtigkeiten immer noch bestehen. Diese Überlegungen sind gut und wichtig! Doch all zu oft verliert mensch dabei die schon bestehenden Errungenschaften, das Positive aus dem Blick. Die queere Gemeinschaft ist immer noch nicht gleichgestellt, weder rechtlich noch gesellschaftlich gesehen, dennoch sollte anerkannt werden, was die Community in den letzten 100 Jahren alles erreicht hat. In unserem Blogartikel „Who is Who – Eine Vorstellung queerer Persönlichkeiten“ haben wir dir schon einige Aktivist:innen vorgestellt, die ihr Leben dem Kampf für Gleichberechtigung und Sichtbarkeit gewidmet haben. Ob Magazine, Lokale, Verlage, Studierendengruppen oder akademische Büros für und von queeren Menschen, all das ist dank ihrer Hingabe und Engagement möglich.
Entkriminalisierung von Homosexualität
Zwar kennt Diskriminierung keine Staatsgrenzen, dennoch gibt es gravierende Unterschiede bei den Rechten homosexueller Menschen. In einigen Teilen der Welt können lesbische, schwule und bisexuelle Menschen heiraten, adoptieren und sind rechtlich vor Diskriminierung geschützt. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist in 30 Staaten erlaubt. In 27 Staaten ist die Adoption durch gleichgeschlechtlich liebende Paare gestattet. Insbesondere Europa ist bei der Legalisierung von Ehe und Adoption homosexueller und bisexueller Menschen Vorreiter sowie bei der prinzipiellen rechtlichen Gleichstellungssituation von LGBTQIA+ Personen. Seit 2014 ist Europa der erste Kontinent auf dem Homosexualität in keinem Land oder Territorium illegal ist.
Protestbewegungen und Pride Kultur
Ob der „Stonewall-Aufstand“ (mehr dazu im Artikel: „Pride Month – Eine kleine Zeitreise und warum Vergangenes hoch aktuell ist“) oder der „Sydney Gay and Lesbian Mardi Gras“, die Protestbewegung und die daraus entstehende Kultur prägte die LGBTQIA+ Bewegung und somit die Gesellschaft im Allgemeinen. Ab den 1960er Jahren formierten sich immer mehr Widerstandsgruppen in den verschiedenen Ländern. Sie kämpften und kämpfen nach wie vor für die Rechte queerer Personen und Sichtbarkeit in einer Gesellschaft, die alle Lebensentwürfe, die nicht dem Ideal entsprechen, kategorisch ausschließt. Zu den beeindruckendsten Protestaktionen zählen zum Beispiel die „Stonewall-Riots“. Sechs Tage hielten Proteste und gewaltsame Zusammenstöße mit den Ordnungskräften an, erzielten so massiv mediale Aufmerksamkeit und sensibilisierte die Mehrheitsgesellschaft erstmals bezüglich sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und der damit verbunden Restriktionen. Das Jahr darauf fanden friedliche Proteste und Märsche der queeren Gemeinschaft statt – der „Gay Liberation Day March“. „ACT UP!“ eine Widerstandsgruppe, die sich für eine Beendigung der AIDS-Krise in den 80er Jahren einsetzte ist noch heute aktiv. Ihre Protestaktionen sind legendär. So gab es die Die-Ins, eine Abwandlung des Sitzstreiks. Bei den Die-Ins legten sich die Protestierenden vor öffentliche Gebäude, Plätze oder Straßen und „stellten sich tot“. Das sollte den Entscheidungsträger:innen vor Augen führen, dass ihre Beschlüsse echte Menschen beeinflussen und dies sogar zu deren Tod führen kann. Die Organisation provozierte bewusst, um so in eine Verhandlungsposition zu kommen. Durch Gespräche mit einflussreichen Politiker:innen erzielten sie besseren Zugang zu Medikamenten, mehr Forschung und generelle Aufmerksamkeit für die Krankheit AIDS.
Wissen – schaf(f)t Macht
Das Institut für Sexualwissenschaften von Hirschfeld wurde im Artikel „Who is Who – Eine Vorstellung queerer Persönlichkeiten“ schon kurz angeschnitten. Doch auch in dieser Auflistung sollte das Institut mit aufgenommen werden. Es war eine beratende, behandelnde und aufklärende Einrichtung und für alle Schichten der Gesellschaft zugängig. Einen Ort zu schaffen, an dem die eigenen Ängste und Sorgen ernst genommen werden und das behandelnde Personal sich die Probleme anhört, ist noch heute schwer zu finden für queere Menschen. Doch Hirschfeld erreichte das für kurze Zeit in seinem Institut. Durch ihn bekam das Tabu-Thema Sexualität und Geschlecht einen wissenschaftlichen Blickwinkel und später konnten daraus die Queer Studys entstehen.
Anerkennung, Symbole und Sichtbarkeit
Immer mehr Straßen werden umbenannt. Die unterdrückenden Personen werden mit empowernden ersetzt. Auch hier in Deutschland werden immer mehr Namen des queeren Widerstandes durch diese Umbenennungen sichtbar. Zum Beispiel wurde ein Teil der Manteuffelstraße in Audre-Lorde-Straße in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg umbenannt. 2021 wurde in New York die erste Statue einer transgender Person, der Legende Marsha P. Johnson aufgestellt. Auch sie haben wir bei „Who is Who – Eine Vorstellung queerer Persönlichkeiten“ vorgestellt. Gedenktafeln und Symbole werden mit dem Ziel eingeführt, Sichtbarkeit zu schaffen und verstorbenen Respekt zu zollen.
Queere Politik und queere Politiker:innen
Politisch hat sich die letzten 100 Jahre so einiges bewegt. 1990 wurde Homosexualität in der Internationalen Klassifikation der Krankheit (ICD) von der Liste psychischer Erkrankungen gestrichen, was ein großer Schritt Richtung Akzeptanz und Anerkennung war. 2019 folge die Abschaffung der transsexuellen Identität als Krankheit durch die Welt Gesundheitsorganisation in der ICD. 2007 konnte dann die Annahme der Yogyakarta-Prinzipien gefeiert werden. Diese 29 Prinzipien umfassen einen globalen Standard für die Sicherung von Menschenrechten für LGBTQIA+ Personen. Den Staaten werden dabei konkrete Empfehlungen an die Hand gegeben, wie sie diese 29 Standards umsetzen können. Die nordischen Staaten, die Schweiz, die Tschechische Republik, Argentinien, Uruguay und die Niederlande haben sich diese Empfehlungen bereits zu eigen gemacht, sie setzen sich nachdrücklich für die weltweite Anerkennung der Yogyakarta-Prinzipien ein. Eine weitere Errungenschaft in der Politik war die Einführung der dritten Geschlechtsoption im Personenstandsregister. In einigen Staaten, darunter Deutschland, USA, Argentinien, Indien, Island und einige mehr, wurde ein „unbestimmtes“ Geschlecht rechtlich anerkannt und kann in Pässen als Geschlechtsmerkmal eingetragen werden. In Deutschland und Österreich ist das „divers“, in den meisten anderen Ländern ein „X“.
Ein weiterer Wendepunkt war die Stellungnahme der WHO 2012, dass die Praxis von „Konversionstherapien“ die Gesundheit und die Rechte der betroffenen Personen gefährdet. Diese „Therapien“ zielen darauf ab, die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität zu verändern, gleichgeschlechtliches Begehren zu hemmen bzw. „zu heilen“. 2016 setzten die Vereinten Nationen die „Konversionstherapien“ und ähnliche Praktiken unter Strafe. 2020 wurden diese Handlungen in einem Bericht mit Folter gleichgesetzt. Derzeit gibt es fünf Länder, die die „Konversionstherapien“ kriminalisieren: Brasilien, Ecuador, Malta, Deutschland und Albanien.
Es wurde schon viel erreicht und dennoch liegt ein weiterhin ein langer Weg vor der Gesellschaft für eine völlige Gleichstellung queerer Personen. Denn egal wie viele Gesetze erlassen werden, wie viele Regeln und Verbote, Organisationen und Proteste auf die Beine gestellt werden, schlussendlich muss sich die Akzeptanz und die Anerkennung verschiedener Identitäten bei jedem einzelnen Mitglied individuell in den Köpfen entfalten. Solange queere Jugendliche auf der Straße angefeindet werden, solange gleichgeschlechtliche Paare sich nicht öffentlich küssen können, so lange Asexualität nicht als Sexualität anerkannt ist, haben wir keine Gleichstellung erreicht. Wir wünschen uns allen Kraft und Mut, um die nächsten Schritte auf dem langen Weg zu gehen. Gemeinsam mit Stolz!
Quellen:
www.https://www.egofm.de/blog/freizeit/meilensteine-der-lgbtq-geschichte
www.growthinktank.org/de
www.actupny.com/contact/
www.tagesspiegel.de/berlin/strassenumbenennung-in-berlin-kreuzberg-erfolgt-nach-zwei-jahren-der-noerdliche-teil-der-manteuffelstrasse-soll-kuenftig-audre-lorde-heissen/27293056.html
www.timeout.com/newyork/news/the-first-transgender-statue-in-an-nyc-park-has-been-erected-082521
www.hirschfeld-eddy-stiftung.de/prinzipien/yogyakarta-prinzipien-1
www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-06/weltgesundheitsorganisation-transsexualitaet-keine-psychische-krankheit-icd11
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