Es war einmal … – ein Queerschnitt der deutschen Geschichte

Häufig besteht der Irrglaube, Geschichte wäre objektiv. Was geschehen ist, ist nun mal geschehen. Da kann mensch nichts mehr dran ändern. Doch die Frage, die dringend gestellt werden sollte, ist: WER erzählt uns WAS von der Geschichte – und kann das dann noch objektiv sein? In den Geschichtsbüchern steht die Historie der Mehrheitsgesellschaft, dabei entstehen blinde Flecken. Diese Mehrheit bestimmt, an was sich wie erinnert wird. Teile der Vergangenheit werden vergessen, ganze Menschengruppen und ihre Schicksale ignoriert oder in einem falschen Licht dargestellt. Die queere Geschichte ist ebenso wichtig für unser heutiges Miteinander und hat ebenso einen Erinnerungswert, doch ist sie herzlich selten zu finden. Museen, Archive und Geschichtswissenschaftler:innen erklären sich immer häufiger bereit, die Erinnerungskultur durch einen queeren Standpunkt zu erweitern. Jedoch passiert das nur schleppend und die Anerkennung der queeren Historie ist an Universitäten noch nicht gänzlich durchgesetzt. Um diese Geschichtslücken etwas zu füllen, möchten wir in diesem Blogbeitrag einen Überblick der queeren Geschichte in Deutschland geben. Es gibt aber noch so viel mehr zu entdecken und zu wissen als die hier präsentierte Zusammenfassung.

Vor dem 20. Jahrhundert

Dass es überhaupt eine Unterscheidung der Sexualitäten gibt, hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert. Der medizinische Diskurs um 1800 in Europa unterschied erstmals in hetero- und homosexuelle Menschen. Homosexualität war aufgrund der religiös geprägten Lebensweise als lasterhaft klassifiziert. Gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen konnten zwar mit dem Tode bestraft werden, doch je höher die gesellschaftliche Stellung der Beteiligten war, desto unwahrscheinlicher die Sanktionierungen. Dementsprechend war vor allem der ärmere Teil der Gesellschaft Verfolgung aufgrund der Sexualität ausgesetzt. Grundsätzlich wurden gleichgeschlechtliche Anziehung und sexuelle Handlungen jedoch als normales Verhalten betrachtet. Die Kirche prägte das Bild der Homosexualität als etwas unsittliches und abnormales. Das wurde auch gesetzlich im Artikel §143 des preußischen Gesetzbuchs seit 1850 festgehalten. Dieser Artikel wurde dann in den §175 des Reichsstrafgesetzbuch geändert. Beide kriminalisierten die Auslebung gleichgeschlechtlicher Liebe zwischen Männern*. Die beiden Paragraphen brachten die ersten homosexuellen Bürgerrechtsbewegungen zu Tage, die sich gegen die Kriminalisierung von gleichgeschlechtlich liebenden Männern* einsetzt. Die Sexualität von Frauen wurde damals nur im Sinne der Ehe und für den Mann dienlich betrachtet. Das heißt Frauen wurden nicht als sexuelle Individuen gedacht und mussten somit auch nicht in die Rechtsprechung miteinbezogen werden.

1920er Jahre

Magnus Hirschfeld und sein Institut für Sexualwissenschaften waren ab 1919 für viele queere Menschen eine Anlaufstelle und Auffangstation. Hirschfeld setzte sich für die Entkriminalisierung von Homosexualität sowie der Abschaffung des §175 ein. Sein Motto war: „Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit“. Homosexualität war für Hirschfeld angeboren und somit wertfrei zu betrachten. Jedoch sind Magnus Hirschfelds Forschungen heutzutage umstritten. So vertrat er einen radikalen Biologismus und war unter anderem der Meinung, Homosexualität wäre behandelbar. In den „Golden Twenties“ entstand die erste Massenbewegung gleichgeschlechtlich Liebender. Erste Zeitschriften für schwule Männer* und kurz darauf für lesbische Frauen* entstanden. Lieder und Kinofilme über gleichgeschlechtliche Liebe wurden produziert. Insbesondere Berlin galt als Hochburg der queeren Community. In keiner anderen Stadt konnte die Sexualität in der damaligen Zeit so frei gelebt werden wie dort.

1930er und 40er Jahre

All diese Errungenschaften und Freiheiten nahmen 1933 ein jähes Ende. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialist:innen wurde der Paragraph 175 verschärft. Homosexuelle Männer* wurden verfolgt, gefoltert, kastriert und/oder in Konzentrationslager gebracht. Die Verlage, Klubs, Bars und Cafés der queeren Community wurden geschlossen. Die aufkeimende Emanzipationsbewegung wurde zerschlagen. Doch nicht alle queeren Menschen wurden durch die Nazis mundtot gemacht, einige wie Frieda Belinfante, Maria Berner, Gertrude Sandmann, Klaus und Erika Mann, Willem Arondeus, Thérèse Pierre oder Josefine Baker kämpften gegen den Faschismus. Was die Historie der gesamten queeren Gemeinschaft in Deutschland im Nationalsozialismus angeht, so ist diese nicht zur Gänze erforscht. Es wird vermutet, dass noch mehr Menschen der Community der Gewalt des NS-Regimes unterworfen wurden. Insbesondere die Geschichte gleichgeschlechtlich liebender Frauen* im Nationalsozialismus bedarf weiterer Ergründungen. Die der trans* Personen erreicht meist nicht einmal die Fußnoten der Geschichtswissenschaften und sollte dementsprechend verstärkt recherchiert werden.
1945 wurden dann die Menschen aus den Konzentrationslagern befreit. Doch nicht alle blieben auch in Freiheit. Viele der KZ-Häftlinge wurden wegen ihrer Sexualität in Gefängnisse gesperrt aufgrund des §175. Menschen, die wegen dieses Paragraphen verurteilt wurden, galten in den Augen der Mehrheitsgesellschaft als Kriminelle und nicht als Opfer des Nationalsozialismus. Queere Personen wurden zwangssterilisiert, bekamen Hirnoperationen oder ihnen wurde die eigene Sexualität abgesprochen.

1950er Jahre

Der durch die Nationalsozialist:innen verschärfte §175 wurde in Westdeutschland bis 1969 beibehalten. Die christliche Moral, die in den fünfziger Jahren in der BRD wieder auflebte, erschwerte die sexuelle und geschlechtliche Freiheit. Kirche und Staat arbeiteten Hand in Hand und trieben die Verfolgung homosexueller Männer* weiter voran. In dieser Zeit wurden mehr Männer* aufgrund des §175 verurteilt als in der gesamten Zeit des Nationalsozialismus. Die „Rosa Liste“ der Nationalsozialist:innen wurde weitergeführt bis in die 1980er Jahre. 1957 verkündete das Bundesverfassungsgericht, dass die verschärfte Version des §175 StGB nicht gegen das Grundgesetz, das Gleichbehandlungsgebot sowie das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verstößt und deshalb beibehalten werden kann.
In Ostdeutschland wurde 1950 die Version der Weimarer Republik des §175 übernommen. Demnach war nur die konkrete sexuelle Handlung zwischen gleichgeschlechtlich liebenden Männern* strafbar, jedoch nicht mehr der bloße Verdacht. Sieben Jahre später wurde entschieden, den Paragraphen nicht mehr anzuwenden, 1967 wurde er final gestrichen. Was jedoch bestehen blieb, war die gesellschaftliche Ausgrenzung und Unterdrückung.
Die Aufarbeitung der NS-Zeit verlief und verläuft heute immer noch in beiden Teilen Deutschlands mit Blick auf die queere Community bescheiden. Sie wurde und wird weiterhin unterdrückt und das Gedenken an die queeren Opfer verhindert.

1960er und 1970er Jahre

Durch Aufstände der Studierenden und jungen Generation änderte sich langsam das Bewusstsein. Die alten Moralvorstellungen und die Befugnis des Staates, die „sittliche Ordnung“ strafrechtlich aufrecht zu erhalten, wurden infrage gestellt. Zunächst wurde 1968 in der DDR, 1969 ebenfalls in der BRD, die Strafbarkeit homosexueller Handlungen aufgehoben. Jedoch gab es in den jeweiligen Teilen Deutschlands eine Regelung bezüglich des Jugendschutzes im Zusammenhang mit gleichgeschlechtlicher Liebe. Der §175 wurde demnach weiterhin beibehalten, aber als Jugendschutzparagraf umformuliert. Grund dafür war die Theorie, dass Jugendliche durch homosexuelle Erlebnisse selbst homosexuell werden und somit eine „Schädigung“ davon tragen.
Auch in den 1970er Jahren blieb die ablehnende Haltung der Bevölkerung bestehen. Zwar gab es keine Verfolgungen mehr, Treffen von gleichgeschlechtlich Liebenden waren möglich sowie der leichtere Bezug zu thematischen Zeitschriften, doch ein offenes Leben nicht. Im Ausland gab es die ersten Pride Paraden. Menschen mit unterschiedlichen sexuellen und geschlechtlichen Identitäten protestierten für ihre Rechte und Sichtbarkeit. In Deutschland brauchte es bis Ende der siebziger Jahre bis sich die erste queere Bewegung auf die Straße traute.

1980er Jahre

München wurde das neue Zentrum für queere Identitäten. Große Partys wurden veranstaltet, die Menschen organisierten und vernetzten sich. Dann kam Aids. Das Stigma der „Schwulenkrankheit“ etablierte sich in der Gesellschaft. Ausgrenzung und Hass gegenüber homosexuellen Menschen nahmen enorm zu. Viele gleichgeschlechtlich liebende Männer* starben, die Politiker:innen versuchten mit Haarstreubeenden Maßnahmen die Krise in den Griff zu bekommen. Nur dank der enormen Solidarität und des Engagements der Gemeinde konnte eine tolerantere und menschlichere AIDS-Politik etabliert werden. Trotz des Leides und der Verluste entwickelte sich eine florierende queere Pop- und Subkultur in München. Im Zuge der AIDS-Debatte fiel das Stigma der Unsittlichkeit gleichgeschlechtlicher Liebe.
In der DDR wurde 1982 der erste Arbeitskreis für Homosexualität der Evangelischen Studentengemeinde in Leipzig gegründet. Die queere Gemeinschaft versammelte sich unter dem Dach der evangelischen Kirche, da diese Organisation die einzige war, die nicht in staatlicher Hand und somit kontrollierbar war. Nach und nach entstanden auch außerhalb des kirchlichen Rahmens Initiativen für gleichgeschlechtlich Liebende.

1990er Jahre

Wissenschaft und Politik beschäftigten sich immer weiter mit Homosexualität. 1994 fiel dann endgültig der Paragraph 175. Die Gender Studies wurden ins Leben gerufen und erste queere Theorien entstanden. Gleichgeschlechtliche Paare konnten offen zusammen sein. Nun stellte sich die Frage, warum diese Paare nicht heiraten dürfen. Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) setzte sich für die Ehe gleichgeschlechtlich Liebender ein. Durch die enorme Medienpräsenz kam das Thema in der breiten Gesellschaft an.

Ab 2000

Am 01.08.2001 trat das Lebenspartnerschaftsgesetz in Kraft und war somit die Minimallösung der Debatte rund um die Ehe für alle. Mit diesem Gesetz gab es nicht die gleichen rechtlichen Absicherungen wie bei der Ehe heterosexueller Paare. Nach vielen Verhandlungen und rechtlichen Klagen gelang es der queeren Community 2013 die Lebenspartnerschaft zur Ehe umzubenennen. Die gleichen Rechte werden jedoch bis heute nicht eingeräumt. Beispiele der Ungleichheit sind das Erbschafts- und Adoptionsrecht. Ein weiterer Meilenstein der queeren Gemeinschaft in Deutschland war die Rehabilitierung der verurteilten Männer* aufgrund des §175. Erst 2017 trat ein entsprechendes Gesetz in Kraft. Auch im kirchlichen Bereich kämpft die queere Gemeinschaft für Sichtbarkeit und gleiche Rechte.
In der katholischen Kirche müssen Menschen der queeren Community immer noch mit Kündigungen rechnen. Viele Angestellte der Kirche müssen Teile ihrer Identität geheim halten, um ihren Job nicht zu riskieren. Bei der Bewegung #outinchurch wird sich für Anerkennung, Akzeptanz und die Änderung des kirchlichen Arbeitsrechts eingesetzt. Am 24.01.2022 outeten sich 125 queere Mitarbeitende der katholischen Kirche öffentlich, viele kirchliche Verbände und Bischöfe äußerten sich positiv zu der Initiative.
Der Wandel in der katholischen Kirche wird unter anderem durch eine Petition mit über 119.000 Unterschriften vorangetrieben. Sie setzt sich dafür ein, dass im Kontext des Lehramts keine menschenfeindlichen Aussagen mehr getroffen werden und für eine Reform des kirchlichen Arbeitsrechts, da alle herabwürdigenden und ausgrenzenden Formulierungen in der Grundordnung gestrichen werden sollen.

In unserer heutigen Kultur bekommen queere Identitäten immer mehr Sichtbarkeit und Raum, doch gerade die Historie, die hinter dieser Errungenschaft steht, wird häufig ignoriert oder vergessen. Die deutsche Erinnerungskultur sollte vielfältiger sein und die Geschichte aufgearbeitet werden. Je mehr Wissen über verschiedene sexuelle und geschlechtliche Identitäten in der Mehrheitsgesellschaft besteht, desto eher wird eine Akzeptanz erreicht. Es besteht noch viel Luft nach oben, was die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung queerer Menschen angeht. Lasst uns also weiterhin laut sein.

Quellen
www.change.org/p/gl%C3%A4ubige-und-mitglieder-der-r%C3%B6misch-katholischen-kirche-und-solidarisierende-outinchurch-f%C3%BCr-eine-kirche-ohne-angst
www.outinchurch.de/
www.dw.com/de/queer-in-der-katholischen-kirche/a-60612039
www.sueddeutsche.de/muenchen/denkmal-fuer-verfolgte-homosexuelle-auf-der-rosa-liste-der-nazis-1.2231667
www.queerhistory.de/category/bildungsmaterialien/unterrichtsmodule/
www.queerexhibition.org/queer-as-german-folk
www.goethe.de/prj/ger/de/ihr/22294995.html
www.swr.de/swr2/wissen/magnus-hirschfeld-pionier-der-sexualforschung-100.html
www.dhm.de/blog/2018/05/03/queer-history/
www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/geschichte-der-homosexuellen-erinnerungskultur-braucht-mehr-vielfalt/24495546.html
www.vangardist.com/
www.lsvd.de/de/ct/934-Von-1933-bis-heute-Lesben-und-Schwule-in-Deutschland-und-der-DDR
www.dhm.de/blog/2018/05/03/queer-history/